Aus dem Leben von Paramahansa Yogananda


 

Selbstverwirklichung contra Großstadt

Man braucht keinen Soziologen, um zu wissen, dass der Trend dieses Zwanzigsten Jahrhunderts in Richtung Zusammenschluss führt. Kleine Unternehmen werden von gro ßen Körperschaften geschluckt, mit denen sie nicht konkurrieren können. Grosse Körperschaften fusionieren mit anderen, um mit der Zeit riesige Wirtschaftsimperien zu werden.

Menschliche Gesellschaften bewegen sich unaufhaltsam zur Zentralisierung der Macht hin. Die wachsende Weltbevölkerung macht zunehmende Kontrolle durch Regierungen notwendig. Der alte Streit zwischen Länderrecht und Bundesrecht ist ein Anachronismus. Es ist heutzutage gesetzlich und wirtschaftlich unmöglich, den lokalen Regierungen die Herrschaft zurückzugeben. Der Trend führt im Gegenteil zu Zusammenschlüssen von Staaten, nicht nur von Städten und Ländern.

Was werden all diese Zusammenschlüsse dem einzelnen Menschen einbringen?

Es ist im Interesse der Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit, dass einzelne Gruppen von Menschen sich zu größeren Gruppen vereinen. Die Gefahr besteht, dass eben jene Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit den Menschen eine Uniformität abverlangen, die ihr persönliches Leben erfasst. Zahlreiche soziale Denker haben festgestellt, dass persönliche Vorlieben und Werte auch sein müssen und wirklich existieren. Sie werden zunehmend der institutionellen Ordnung, dem „Establishment", untergeordnet.

Dem institutionellen Verstand mag solche Uniformität als Endziel und Segen an sich erscheinen. Selbstsüchtiger Individualismus wird von jenen Menschen getadelt, und das natürlich mit Recht, wenn er wirklich selbstsüchtig ist. Aber sie stellen den Zusammenschluss als einzige Alternative hin, und jeder, der einen solchen Trend unterstützt, wird als „freiheitlich" gepriesen.

Ist es wirklich freiheitlich, menschliche Freiheit zu zerstören? Freiwillige Zusammenarbeit und erzwungene Uniformität sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Es gibt eine dritte Alternative für den Menschen. Sie liegt in der Anerkennung der Tatsache, dass der innere Mensch, nicht eine äussere Ordnung, die Triebfeder reifen Handelns ist.

Des Menschen Fehler war die Vorstellung, Systeme könnten mehr sein als eine Erleichterung. Systeme sind kein Selbstzweck. Sie können die Menschen nicht zur Vollkommenheit führen. Sie können bestenfalls einige Leute von allzu zügellosem Betragen abhalten.

Je mehr die Gesellschaft in ihrer Macht zentralisiert ist, desto grösser wird die Notwendigkeit für das Individuum, seine Werte (die dem äusseren Vorteil entgegenstehen) in sich selbst zu suchen. Denn der Mensch ist mehr als ein Rädchen im sozialen Getriebe. Die Systeme, die er annimmt, sollen in irgendeiner Weise ihm persönlich dienen und nicht einer von ihren Mitgliedern losgelösten Gesamtheit namens „Gesellschaft". Einige Autoren haben von der Gesellschaft als Organismus gesprochen. Das ist irreführend. Aus unserem Inneren kommen unsere Inspiration, unser Verstehen, Liebe und Glück. Was wir aussen erfahren, hängt von unserem inneren Aufnahmevermögen für Erfahrungen ab. Der Mensch ist eine Quelle des Lichts, kein Spiegel.

Darum wird in der modernen sozialen Evolution der Zeitpunkt kommen, wo die Menschen einzeln aufstehen, um ihre menschliche Würde zu behaupten, statt sich bereitwillig äusseren Forderungen nach Uniformität zu unterwerfen.

Der erwähnte Trend ist nicht aufzuhalten. Ja, wir sehen heute, wie die Menschen dem Zwang zur Uniformität nicht weiter stattgeben und in wachsendem Masse ihre Individualität betonen. In kommunistischen Ländern versuchen die Regierungen, diese Tendenz zu unterdrücken, aber selbst dort ist sie deutlich erkennbar.

Sie war sogar in der völlig entmenschlichten Atmosphäre der Konzentrationslager des Zweiten Weltkrieges sichtbar. Selbst dort fanden sich einzelne, die den Gemeinheiten ihrer Umgebung persönlichen Widerstand boten und wie Lotosblüten aus dem Sumpf zur Grösse erblühten.

Es ist an der Zeit, von der einseitigen Beschäftigung mit äusseren Systemen weiterzuschreiten zur Erkenntnis des wahren Schlüssels der Wirksamkeit jedes Systems. Der Schlüssel ist das Individuum. Selbstentfaltung ist ein Gebot der Stunde - nicht als selbstsüchtiger Anspruch an das Universum, sondern einfach als eine individuelle und zutiefst persönliche Suche nach Selbst-Verwirklichung.

Das Ergebnis wird den Menschen in ihren politischen,

wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen nützen. Denn alles dient der Harmonie der Menschen, die innere Harmonie gefunden haben. Und nichts kann dem innerlich Disharmonischen Harmonie bringen.

Da taucht die Frage auf: Wie kann man mitten im Durcheinander der Gesellschaft ein inneres Leben entwickeln, ohne Forderungen an andere zu stellen? Es ist schwer, inneren Frieden zu entwickeln, wenn man vom Chaos umgeben ist. Es ist schwer, stets in einer Richtung fortzuschreiten, während wirbelnde Ströme in Millionen andere Richtungen ablenken.

Man bedenke: Warum sollte man am Stadtleben festhalten? Wenn es für einen Menschen nicht geeignet ist, welchem moralischen Ziel dient er dann durch hartnäckiges Verharren? Der Möglichkeit, dass es irgendwie mit der Zeit in einen umfassenden Segen verwandelt werde? Nicht die Systeme bringen dem Menschen Segen, sondern der Mensch selbst segnet seine Systeme durch den guten Willen, sie in Gang zu bringen.

Nein, weder der soziale noch der philosophische oder persönliche Standpunkt machen es notwendig, in einer Umgebung zu bleiben, die unserem Wohl abträglich ist. Die moderne Grossstadt scheint für so viele Menschen eine Annehmlichkeit zu sein; für den schöpferisch denkenden Menschen aber hört sie auf, dies zu sein; statt dessen wird sie ihm zum Hindernis. Er muss seinen Weg finden zur Gesundheit und zum Frieden eines einfachen Lebens, sobald die Umstände es erlauben.

Wer sich der Entwicklung seines Bewusstseins widmet, hat es viel besser als jemand, der mit all seinen Kräften sein bisschen Selbstgefühl aufrechterhalten muss, während Horden von Kokurrenzkämpfern seine Selbstachtung verletzen. Mit Schrecken liest man viele Zeitungsmeldungen über Menschen ohne Anteilnahme, die ruhig einem Verbrechen oder einem Menschen, der auf der Strasse umfiel und starb, zusahen. Anscheinend wahrt der durchschnittliche Stadtmensch seine Unversehrtheit, indem er sich von der Welt um ihn her und von seinen Mitmenschen isoliert. Allein auf der winzigen Insel seines Ichs ist er gestrandet - kein Wunder, dass die Klage über Entfremdung so verbreitet ist.

„Vor allen Dingen", schrieb Shakespeare, „sei wahrhaftig zu deinem eigenen Selbst. Dann folgt darauf wie die Nacht auf den Tag, dass du zu keinem Menschen falsch sein kannst." Wie kann es ohne Selbstachtung wahre Achtung vor anderen Menschen geben? Wie kann es ohne Selbsterkenntnis ein Empfinden für die Bedürfnisse anderer geben? Die Quellen der Nächstenliebe müssen aus dem inneren Menschen entspringen. Sie können ihn nicht durch Eindringen von aussen erreichen. Hinauf aufs Land zu eilen, muss also keineswegs eine Ablehnung von solcher Verantwortung bedeuten - nicht nur für sich selbst, sondern übergeordnet auch für die ganze Gesellschaft. Es kann vielmehr der Beginn einer ernsthaften Übernahme solcher Verantwortung sein.
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Aus: "Idealistische Gemeinschaften" von Swami Kriyananda, direkter Jünger Paramahansa Yoganandas