Wahre Lehre ist individuell
Meister selbst war zu jedem von uns wie ein makelloser Spiegel. Er hielt unserem inneren Schauen nicht seine Meinungen über uns, sondern die subtilen Reaktionen unserer eigenen höheren Naturen entgegen. Seine perfekte Selbst-Transzendenz hörte nie auf, mich zu verblüffen. In Begleitung einer anderen Person wurde er in gewissem Sinne sogar diese Person. Ich meine nicht, dass er in unserer Anwesenheit unsere Schwächen übernahm, unsere Kleinlichkeit oder unsere Stimmen des Zorns und der Verzweiflung. Was er uns zeigte, war eher der stille Beobachter, tief in unserem eigenen Selbst.
Ein erstaunliches Merkmal meiner eigenen Beziehung zu ihm war, dass ich mich niemals wirklich klar daran erinnern konnte, wie er aussah. Ich bedurfte eines Photos, um mir sein Antlitz klar vor Augen zu führen. Selbst unter Photographien von ihm habe ich niemals zwei gleich aussehende gefunden. Wenn er mit jemand anderem dargestellt ist, sieht er in subtiler Weise wirklich wie dieser aus. Zusammen mit Senior Portes Gil, dem mexikanischen Präsidenten, sieht er wie Senior Gil aus. Zusammen mit Amelita Galli-Curci, der großen Opersängerin, ähnelt er ihr auf seltsame Art. Mit Goodwin J. Knight, Lieutenant Governor (stellvertretender Gouverneur; Anm. d. Übers.) von Kalifornien zusammen photographiert, erscheint er fast als Mr. Knights alter ego. Mit welchem Jünger immer er posiert, er scheint dieser Jünger zu werden. Man wundert sich, dass ein einziges Gesicht solch eine weite Skala von Expressionen vermitteln kann. Aber natürlich war es nicht sein Gesicht, das sich veränderte, sondern das Bewusstsein, das dahinter stand. Meister ging einen Schritt weiter; er sah den Gott in uns nicht nur: Er wurde dieser Gott, damit wir unser eigenes göttliches Potential sehen, und besser verstehen konnten, auf welche Weise sich der Herr durch unser Leben ausdrücken wollte.
Ah, Meister! Hätte ich doch damals nur so klar wie jetzt erfasst, welch großartiges Geschenk du uns gegeben hast! Aber ich nehme an, selbst wenn es der Fall gewesen wäre, würde ich heute genauso klagen. Denn die Evolution hört nicht auf, bis sie zuletzt die Unendlichkeit umfasst.
In seiner Ausbildung ging Meister individuell vor. Nicht, dass er seine grundlegenden Lehren änderte, um sie unseren persönlichen Bedürfnissen anzupassen. Er variierte eher die Schwerpunkte. Einigen gegenüber strich er eine Einstellung des Dienens hervor, anderen gegenüber die einer tiefen Verinnerlichung. Für einen betonte er die Notwendigkeit größerer Freude; für einen anderen weniger Leichtfertigkeit. Seine Emphasis war in hohem Grade zu subtil, um in Worte gefasst werden zu können. Er übertrug sie durch eine gewisse Intonation der Stimme, einen speziellen Ausdruck in den Augen, eine besondere Kopfbewegung. Was er zu einer Person sagte, mochte er zu keiner anderen aussprechen. In einem sehr realen Sinn war er jedem von uns ein eigenster, persönlicher, göttlicher Freund.
Man hätte vielleicht erwartet, dass er in unserer Arbeit das grundlegende Prinzip jeder gut funktionierenden Institution befolgte: "Mach von den einzelnen Talenten den bestmöglichen Gebrauch." Aber für Meister hätte diese Vorgangsweise bedeutet, seine Jünger zu gebrauchen. Seine wahre Sorge galt immer unserem spirituellen Bedarf. Manchmal zog er uns faktisch von einem wichtigen Aufgabengebiet ab — von einem womöglich, für das niemand anderer gefunden werden konnte — , nur um uns geistig zu helfen. Manchmal teilte er Leuten auch Positionen zu, für die sie nicht qualifiziert waren, in der Absicht, sie seinen Erwartungen hinsichtlich der Entwicklung fehlender spiritueller Qualitäten näher zu bringen. Ein andermal gab er uns Arbeiten auf, die uns unangenehm waren. Nicht, weil wir besondere Fertigkeit darin hatten (ich erinnere mich einer Tischlerarbeit: für jedes Mal, da mein Hammer den Nagel traf, musste es neun andere gegeben haben, da er ihn verfehlte), sondern weil die jeweilige Tätigkeit gut für uns war. Wahrscheinlich hatten wir uns eine geistige Eigenschaft anzueignen — z.B. Unwilligkeit zu überwinden.
Manchmal wollte er Leute nicht für Positionen einteilen, für die sie außerordentlich geeignet waren, weil sie einfach diese besonderen Erfahrungen für ihr spirituelles Wachstum nicht mehr benötigten. Viele werden sich wahrscheinlich gedacht haben, dass er seine am meisten fortgeschrittenen Jünger für das priesterliche Amt heranzog. Tatsächlich sagte er, nur jenen das Amt zu übertragen, die in früheren Leben die erforderlichen spirituellen Qualifikationen erworben hatten. Aber mit derlei Überlegungen ging
die noch bedeutsamere Frage einher, was wir für uns selbst benötigten, um weiterwachsen zu können. Einmal sprach er zu mir über Rajarsi Janakananda, seinem fortgeschrittensten Jünger. "Er leitete vor Jahren ein Zentrum in Kansas City, aber ich bat ihn, es aufzugeben. Service in diesem Kapazitätsrahmen war für seinen geistigen Entwicklungsstand keine Notwendigkeit mehr."
Schwester Gyanamata, seine fortgeschrittenste Jüngerin und eine Person von tiefer Weisheit, hätte enorme Hilfestellung durch das Erteilen von Unterricht, das Halten von Vorträgen und die Abfassung von Beiträgen für das SRF - Magazin leisten können. Diese Art von Tätigkeit jedoch war für ihr geistiges Wachstum einfach nicht erforderlich. Einmal versuchte ich, sie — zusammen mit verschiedenen anderen fortgeschrittenen Jüngern — dafür zu gewinnen, Artikel für das Selbstverwirklichungs-Magazin zu schreiben. Diese Bemühung stand in Übereinstimmung zu Meisters Ersuchen, diese zweimonatig erscheinende Publikation attraktiver und für den Leser hilfreicher zu gestalten; "mit kurzen, praktischen Beiträgen", wie er es ausdrückte, "über Techniken und Prinzipien einer richtigen Lebensweise — Artikel, um Menschen auf allen Ebenen zu helfen: physisch, mental und geistig." Ich versuchte, für dieses Vorhaben so viele Autoren als möglich zu gewinnen, und dachte natürlich, je höher die geistige Entwicklungsstufe des Verfassers ist, desto besser würde dessen Aufsatz sein. Aber zu meiner Überraschung antwortete weder Schwester Gyanamata noch jemand von den anderen, auf die ich am meisten Hoffnung gesetzt hatte, auf meinen Appell. Das war meine erste Begegnung mit dem Faktum, dass Meisters Training individuell war. Meine erste instinktive Reaktion (" Wollen sie Meisters Willen nicht nachkommen?") stand im Gegensatz zu meiner Erkenntnis, dass sie um vieles mehr über Meisters Intentionen wissen mussten als ich. Gezwungenermaßen gelangte ich zu dem Schluss, dass Meister zwar eine Verbesserung des Magazins, aber nicht notwendigerweise jede im Umkreis befindliche Hand dabeihaben wollte. Es war nicht nur eine Frage, was er wollte, sondern auch, von wem er es wollte.
Mein eigenes tiefsitzendes Verlangen war es immer, Freude mit anderen zu teilen. Durch mein eigenes spirituelles Leiden, das ich hinter mir hatte, fühlte ich ebenso tief dasjenige von anderen, und es drängte mich danach, allen meine Hilfe zur Linderung der inneren Schmerzen anzubieten. Meister erwiderte meine Gefühle und bildete mich von Anfang an für öffentliches Service aus. Im Januar 1949 teilte er mir Büroarbeit zu; ich beantwortete Briefe. Diese tippte ich in meinem Zimmer, da es damals kein eigenes Büro für Mönche gab. Anfangs tendierten meine Briefe zur Überlänge.
"Einmal kannte ich eine Romanschriftstellerin", sagte mir Meister eines Tages zwecks Unterweisung, "die ihre Briefe mit den Worten beendete: ,Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, wäre dieser Brief kürzer geworden.'" Er korrigierte mich auch sonst im Hinblick auf den bestmöglichen Weg, unsere Lehren anderen zu vermitteln.
Nicht lange, nachdem er mich zu einem Briefschreiber gemacht hatte, bat er mich, den kompletten Satz der SRF - Lektionen durchzugehen. Seine Begründung dafür amüsierte mich: "Ich möchte deine Vorschläge für Verbesserungen hören. " Ich wusste wohl, dass der wirkliche Zweck darin bestand, mich dazu zu bewegen, die Lektionen so genau wie möglich zu studieren.
Bald danach ernannte er mich auch zum offiziellen "Prüfer". Diese Aufgabe bedeutete, die Antworten der Studenten auf die Tests, die in jenen Tagen am Ende jeder Lektionsstufe versendet wurden, durchzusehen und zu beurteilen.
Mit diesen Mitteln suchte Meister, mir eine solide Grundlage seiner Lehre zu geben.
Im März 1949 fragte er mich, ob ich Artikel für unser Zweimonatsmagazin schreiben könnte. Ich bediente mich des Pseudonyms Robert Ford. Mein erstes Elaborat, "Du kannst deine Persönlichkeit verändern", erschien in der Mai/Juni-Ausgabe desselben Jahres.
Einmal instruierte mich Meister, nach dem Sonntagsgottesdienst vor der Kirche in Hollywood zu stehen und den Leuten beim Verlassen des Gebäudes die Hand zu schütteln. Meister wollte nicht, dass ich die Leute einfach begrüße, sondern dass ich als Instrument des Segens für andere diene. Das erste Mal, da ich es versuchte, fühlte ich mich so ausgezehrt an Energie, dass mir richtig schwindlig wurde. Ich nehme an, die Leute zogen unbewusst aus mir heraus, zumal sie mich ja als Meisters Repräsentanten ansahen.
"Meister", sagte ich später, "ich glaube nicht, dass ich dieser Aufgabe schon gewachsen bin", und erklärte, was geschehen war.
"Das kommt daher, dass du an dich selbst denkst", war seine Antwort. "Denk an Gott und du wirst Seine Energie durch dich durchfließen sehen. "
Sein Vorschlag funktionierte. Da ich mich nun an den Gedanken an Gott hielt, fand ich mich nach dem Händedruck mit der Kirchenversammlung tatsächlich in besserer Verfassung als zuvor. "Wenn dieses Ich sterben wird", schrieb Meister einmal, "dann werde ich wissen, wer ich bin."
Eine meiner Organisationspflichten war es, wöchentlich Anzeigen in den Tageszeitungen aufzugeben, um anzukündigen, welcher Geistliche am nächsten Sonntag in welcher Kirche sprechen und was sein Thema sein würde. Meister hatte für gewöhnlich jede zweite Woche im Tempel in San Diego, die andere Woche in Hollywood vorgetragen. In den letzten Wochen war er jedoch nur gelegentlich nach San Diego gefahren. Die Kirchenmitglieder dort, immer darauf aus, ihn zu sehen, waren angewiesen worden, jeden Samstag in der Kirchenseite des San Diego Union nachzusehen. Wann immer Meister sprach, war die Kirche zum Bersten gefüllt.
Eines Tages im Mai wurde ich gebeten, die Ankündigung einzusenden, dass Meister am folgenden Sonntag dort erscheinen werde. Seit dem letzen Mal waren mindestens zwei Monate vergangen. Ich lächelte bei dem Gedanken, wie angetan die Gemeinde sein würde.
Samstag morgens kam Bernard mit einer fürchterlichen Nachricht zu mir ins Zimmer. "Meister kann zu guter Letzt doch nicht nach San Diego fahren. Er möchte, dass du an seiner Stelle sprichst."
"Ich! Aber . . . aber ich habe niemals zuvor in meinem Leben vorgetragen! "
"Er möchte auch", setzte Bernard mit stoischer Gelassenheit fort, "dass du nachher eine Kriya - Einweihung gibst."
"Was? Wie kann das sein, ich habe erst einer Einweihung beigewohnt!"
"Zweien", korrigierte mich Bernard. "Meister weihte dich doch letzten Oktober in Twenty-Nine-Palms ein — erinnerst du dich?"
"Also gut, zwei. Was macht das für einen Unterschied? Ich meine — nun, natürlich werde ich seinen Wunsch befolgen, aber ... Oh, diese armen Leute! " "Du brauchst nur einen einzigen einzuweihen", tröstete mich Bernard. "Hier ist das Geld für den Bus. Du machst dich besser gleich auf den Weg! "
Mit bebendem Herzen fuhr ich am nächsten Morgen nach San Diego. In einem kleinen Raum hinter der Kirche betete ich verzweifelt um Leitung und Hilfe. Als die Zeit für den Gottesdienst näher kam, ging ich hinaus und setzte mich, wie es damals Brauch war, auf einen Sessel. Durch die geschlossenen Vorhänge konnte ich deutlich das Gemurmel einer großen und begierig wartenden Menge hören.
Der gefürchtete Augenblick war da. Ich stand auf. Die Vorhänge teilten sich. Meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Die Kirche war gepackt voll. Die Leute standen überall in den Gängen. Andere reckten ihre Hälse, um durch die Fenster hereinzuspähen. Ich konnte ihren Schock fast als körperliche Welle spüren. An Stelle ihres langerwarteten Gurus sah sie ein unbekannter und ziemlich verloren wirkender zweiundzwanzigjähriger Junge an, der sie fragte, ob sie — noch? — wach und bereit seien. Ich fühlte ihre Enttäuschung so mit, dass ich ganz auf die Peinlichkeit meiner eigenen Lage vergaß. Wenn alle Menschen hinausgegangen wären, ich hätte es verstanden. Aber regelmäßige Meditation hatte sie gnädig gemacht. Niemand ging.
Die Kriya-Einweihung an diesem Nachmittag jagte mir sogar mehr Furcht ein als der Gottesdienst. Michelle Evans, die Dame, die ich einweihte, blickte ebenso erschrocken wie ich — infiziert von meiner eigenen Angst, wie sie nachher zugab. Aber des Meisters Segen, den wir machtvoll in uns spürten, zerstreute jegliches Bangen. Ich kehrte an diesem Nachmittag vielleicht gebeugt, aber unblutig auf Mt. Washington zurück.
Später erhielt Meister für meine Lektion Komplimente. "Am besten", berichtete er zufrieden, "kam deine Bescheidenheit an." Ich aber dachte mir, dass diese unter den gegebenen Umständen ohnehin unvermeidlich war!
Von dieser Zeit an ließ mich Meister regelmäßig in den Kirchen von Hollywood und San Diego sprechen. Er bezog sich auf mich öffentlich als "Reverend Walter", obwohl die Formalitäten der Ordination erst ein Jahr später erfüllt werden sollten.
"Eure Sehnsucht, glücklich zu sein, muss das Glück anderer einschließen", erklärte er uns oft. Ich hatte in meinem Herzen immer gewusst, dass ich eines Tages den Ruf erhalten würde, anderen durch Lehre und Vortrag zu dienen. Aber ob aus Bescheidenheit, die Meister manchmal an mir lobte, oder aus dunkleren Motiven der Unwilligkeit heraus — es dauerte einige Jahre, bis ich selbst zu der Überzeugung gelangen konnte, dass meine Ausführungen irgendjemandem von Nutzen waren.
Meister jedoch machte klar, dass er von mir erwartete, diese Verpflichtungen ernst zu nehmen. "Sir, ich will kein Prediger sein!" flehte ich ihn einmal an. "Du freundest dich besser damit an", entgegnete er liebenswürdig. "Das ist es, was du zu tun haben wirst."
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Aus: "The Path" von Swami Kriyananda, direkter Jünger Paramahansa Yoganandas