Priesterschaft
Ab Juni 1949 hielt ich mehr oder weniger regelmäßig Wochentagsgottesdienste. Bald gab ich auch manchmal Sonntags-Gottesdienste. Ein Problem für jeden neuen Redner ist, Nervosität zu vermeiden. Das Durchschnittsalter meiner Zuhörer war um die vierzig. Ich konnte davon ausgehen, dass sie über die meisten Dinge mehr wussten als ich. Die Lösung, die ich fand, bestand darin, mit dem ärgst möglichen Publikum zu rechnen und es zu akzeptieren. "Es ist ohnedies alles Gottes Traum", erinnerte ich mich selbst. Dann gewöhnte ich mich daran, die Leute, zu denen ich sprach, als Verkörperungen Gottes anzusehen. Durch sie war ich dazu aufgerufen, IHM zu dienen, mehr als durch einfaches Überstehen der Herausforderung, vor ihnen zu erscheinen.
Anfangs pflegte ich vor jedem Vortrag zu beten: "Herr, inspiriere mich dazu, das zu sagen, was Du gesagt haben willst." Später lernte ich auch, Ihn zu bitten: "Hilf mir zu spüren, was diese spezielle Zuhörerschaft durch mich hören soll. " Mit der Zeit ging ich auch dazu über, mich nur geringfügig, wenn überhaupt, auf meine Reden vorzubereiten. Ich fand nämlich heraus, dass ein offener Geist mir ermöglichte, sensibler auf die unausgesprochenen Bedürfnisse meiner Zuhörer zu reagieren. Die Leute begannen, sich nach meinen Vorträgen dafür zu bedanken, dass ich auf ihre spezifischen Anliegen geantwortet hätte.
Meister gab mir auch folgenden Rat: "Meditiere tief vor jedem Vortrag. Denke dann, während du die meditative Gelassenheit hältst, darüber nach, was du zu besprechen beabsichtigst. Schreibe deine Einfälle nieder. Nimm ein oder zwei lustige Geschichten auf; die Leute sind rezeptiver, wenn sie zwischendurch mal von Herzen lachen können. Schließe mit einer Geschichte aus den SRF - Lektionen. Verbanne danach das Thema aus deinem Verstand. Halte, während du sprichst, die tragenden Punkte deines Grundkonzeptes vor deinem geistigen Auge, aber bitte vor allem den Geist, durch dich zu fließen. Auf diese Weise wirst du die Inspiration aus deiner inneren Quelle schöpfen und nicht aus dem Ego heraus sprechen."
Am wichtigsten von allem war für Meister die Frage der inneren Übereinstimmung während des Vortragens, sodass wir mit unseren Zuhörern nicht nur unsere Ideen, sondern auch unsere Schwingungen teilten.
Am späten Nachmittag eines Donnerstages entdeckte er Dr. Lewis am Gelände in Encinitas, der soeben einen Spaziergang unternahm.
"Doktor, leiten sie nicht den Gottesdienst dieses Wochenende? Warum streunen sie dann hier herum? Sie sollten mit der Meditation beschäftigt sein! "
Mit der Zeit erreichte ich den Punkt, an dem ich von meiner Einschwingung auf Meister tatsächlich eine Kraft fühlen und damit jeden Raum erfüllen konnte, in dem ich vortrug. Wenn irgendetwas von dem, was ich sagte, meine Zuhörer berührte, war das viel eher auf diese Kraft zurückzuführen, als auf jedes der Worte, das von mir selbst kam.
Meisters eigene Gottesdienste waren reich an Inspiration. Sie vermittelten keines der verwaisten Gefühle, die man in vielen Kirchen erfuhr; Gefühle eines Gottes, der weit weg in einem unvorstellbaren Himmel lebte oder eines Jesu Christi, der für seine fortwährende Realität keine lebendigere Zeugenschaft hinterließ als die gedruckte Bibel. In Meisters Gegenwart wurden göttliche Wahrheiten in aufregender Weise lebendig und durch die Unmittelbarkeit seiner eigenen Gott-Verwirklichung in atemberaubende Schwingung versetzt.
"Sie sind ein guter Verkäufer!" rief ein amerikanischer Geschäftsmann nach einem seiner Vorträge aus. "Das kommt daher", entgegnete Meister, "dass ich mich selbst an die Wahrheiten, die ich lehre, verkauft habe!"
Einige meiner beeindruckendsten Erinnerungen an Meister rühren aus seinen öffentlichen Vorträgen. Während sie der süßen Intimität der Gespräche mit Jüngern auf Mt. Washington entbehrten, erklangen sie im Geist einer Sendung, die nach seinen Worten darauf gerichtet war, eine spirituelle Erneuerung in die Welt zu bringen. Ich erinnere mich besonders daran, wie betroffen ich von einer Ansprache war, die er bei einer Gartenparty in Hollywood hielt. Es war der aufwühlendste Vortrag, den ich je gehört hatte.
"Dieser Tag", donnerte er und betonte jedes Wort, "markiert die Geburt einer neuen Ära. Die von mir gesprochenen Worte sind im Äther aufgezeichnet, im Geist Gottes, und sie werden den Westen in Bewegung versetzen ... Selbst-Verwirklichung ist gekommen, um alle Religionen zu vereinen ... Wir müssen weiter gehen — nicht nur die, die hier sind, sondern Tausende von jungen Menschen müssen nach Norden, Süden, Osten und Westen, um die Erde mit kleinen Kolonien zu überziehen und zu beweisen, dass Einfachheit des Lebens und hohes Denken zum größten Glück führen!" (19) Ich war bis in mein Innerstes bewegt. Ich wäre keineswegs überrascht gewesen, wenn sich die Himmel aufgetan hätten und eine Engelsschar herausgeströmt wäre, mit flammenden Augen zu tun, was er geheißen. An diesem Tag schwor ich zutiefst, mein Möglichstes dazu beizutragen, um seine Worte Wirklichkeit werden zu lassen.
Viele Male während der Jahre, in denen ich mit Meister war, befasste er seine Zuhörerschaft mit dem Thema seines Lieblingstraums: "Weltbruderschafts-Kolonien" oder spirituell kooperative Gemeinschaften — nicht nur Klöster, sondern Plätze, an welchen die Leute sich in allen Organisationsformen des Lebens einer göttlichen Lebensweise widmen konnten.
"Findet euch zusammen: diejenigen von euch, die hohe Ideale teilen", sagte Yogananda seine Zuhörern. "Gebt eure Mittel zusammen. Kauft Grund auf dem Land draußen. Ein einfaches Leben wird euch inneren Frieden bringen. Harmonie mit der Natur wird euch ein Glücklichsein verschaffen, das nur wenige Stadtbewohner kennen. In Gesellschaft anderer Wahrheitssucher wird es für euch leichter sein, zu meditieren und an Gott zu denken.
Was ist der Nutzen all dieser Luxusgüter, mit denen sich die Leute umgeben? Für das meiste, das sie haben, zahlen sie nach dem Ratenplan. Ihre Schulden sind eine Quelle endloser Sorge für sie. Selbst die Leute, deren Luxusgüter bezahlt sind, sind nicht frei; Verhaftung macht sie zu Sklaven. Sie halten sich wegen ihrer Besitztümer für freier, erkennen aber nicht, wie sehr sie umgekehrt von ihren Besitztümern besessen werden!"
19) Self-Realization-Magazin, Nov.-Dez. 1949, S. 36.
Er fügte hinzu: "Der Tag wird kommen, da sich diese Idee der Kolonien wie ein Lauffeuer ausbreiten wird."
Heute scheint Meisters Kommentar über unsere Lebensverhältnisse mehr zuzutreffen als je zuvor: Die moderne Gesellschaft glaubt, dass einer umso glücklicher ist, je mehr er besitzt, je mehr an äußerer Vielfalt, Unterhaltung und Aufregung erlebt. Die Konsumideologie erhält eine Gewichtung, als ob ihr moralischer Wert zukäme: "Gib mehr aus, dann gibt es mehr Arbeitsplätze, wodurch mehr produziert wird, damit du noch mehr ausgeben kannst." Es ist natürlich nicht falsch, per se, die Annehmlichkeiten in Anspruch zu nehmen, die uns die moderne Zivilisation durch ihre hochentwickelten Methoden der Massenproduktion und -verteilung zur Verfügung stellt. Was hier nicht stimmt, ist das Maß an Energie, das diesen äußeren Zielen zugeführt wird — auf Kosten des inneren Friedens und der inneren Bewusstheit. Der Besitzdrang verleitet die Leute dazu, allen Ernstes zu glauben, die eigene Besserstellung sei wichtiger als Service; Verpflichtungen müsse man nur insoweit einhalten, als sie einem selbst nützen; die gültigsten Anschauungen und Ideen seien diejenigen, die die größte Verbreitung erfahren; und dass Weisheit, Erfüllung und Glück wie Radiobestandteile massenproduziert werden können. Die Menschen verlieren auf diese Weise die Beziehung zu sich selbst und werden unglücklicher statt umgekehrt. Es hat vermutlich niemals zuvor ein Zeitalter gegeben, in dem sich so viele Leute von ihren Mitmenschen und dem Leben selbst entfremdet gefühlt haben, sich ihrer so unsicher, so nervös, verängstigt und unglücklich waren.
Unsere Konsumkultur wirft die fundamentalsten Lehren von ganzen Zeitaltern als altmodisch beiseite — als ob uns die Fähigkeit, Flugzeuge und Fernsehgeräte zu bauen, dazu qualifizierte, über das Leben besser Bescheid zu wissen als ein Jesus, Krishna, Buddha oder Lao Tse. Die menschliche Natur hat sich aber nicht verändert. Diejenigen, die ihre leitenden Prinzipien missachten, haben dafür uneingeschränkt die Folgen zu tragen, ob als rastlose und unglückliche Kameltreiber, oder ebensolche Jet-Piloten oder Vorstandsdirektoren.
Die Lösung liegt freilich nicht in einer Rückkehr zum Primitivimus oder romantischen Gesellschaftsutopien, sondern einer tiefgreifenden Änderung der Prioritäten: "Materielle haben sich humanen und geistigen Zwecken unterzuordnen."
Meister wollte eine Muster-Weltbruderschaftskolonie in Encinitas gründen. Tief fühlte er die Bedeutung seines Traums von Kommunität; jahrelang formte er den Zellkern für all seine Arbeitspläne.
Aber leider begegnete er einem Hindernis, das seit den Tagen des Buddha jeder spirituellen Reform im Wege stand: die menschliche Natur. Die Ehe hat immer dazu geneigt, etwas von einer geschlossenen Korporation zu bilden. Die wirtschaftliche Depression der Dreißigerjahre hatte auf eine ganze Generation von Amerikanern den Effekt, diese Tendenz noch zu verstärken, weil sich ihr Verlangen nach weltlicher Sicherheit entsprechend vergrößerte. "Wir vier, sonst keiner hier!" war die Art, wie Yogananda ihre Einstellung umschrieb. Amerika war noch nicht bereit für Weltbruderschafts-Kolonien.
Aber Meister wusste, dass sein Traum irgendwann erfüllt sein musste.
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Aus: "The Path" von Swami Kriyananda, direkter Jünger Paramahansa Yoganandas